»Uralte« Lösungen für »moderne« Wirtschaftsprobleme
Die Natur ist der beste Lehrmeister
Die Natur ist der beste Lehrmeister. Das weiß
man in den Naturwissenschaften schon lange.
Die Bionik imitiert die Natur und bringt
Lösungen hervor, wie sie der klügste Ingenieur
nicht besser entwickeln hätte können. Auch in
der Wirtschaft lohnt sich ein Blick auf die
Managementprinzipien der Natur.
Folker Scholz
Integration von Management, System, Organisation, Prozess und Qualität
Überrascht? Machen wir den Fakten-Check: Die Natur betreibt seit rund zwei Milliarden Jahren
Stoffwechsel, also eine Art von Warenaustausch mit einem komplexen Ressourcen-Management – alles
typischen Attribute wirtschaftlichen Handelns. Eine einfache Stubenfliege ist systemisch komplexer
als jedes Wirtschaftsunternehmen. Lebewesen, wie wir Menschen, sind ein abgestimmt agierendes
Gemeinwesen aus einigen Billionen Zellen, einem Hundertfachen der Einwohnerzahl unserer Erde.
Die Frage drängt sich auf, mit welchen Management-Prinzipien, die »natürlichen«
Wirtschaftsteilnehmer so lange so erfolgreich agieren. Aus der Technik kennt man den Begriff der
Bionik, der für den Versuch steht, Anleihen aus der Natur zu ziehen, um technische Probleme zu
lösen. Bekannt sind Vielen der Lotus-Blüten-Effekt, der Wasser und Schmutz von Oberflächen
abtropfen lässt, oder energiesparende Winkel am Ende von Flügeln. In zwei Milliarden Jahren
evolutionärem Ausprobieren und Optimieren haben sich vielfältige Problemlösungen entwickelt –
nicht nur in technischer Hinsicht. Gleiches gilt auch für Informationsverarbeitung, Steuerung, den
effektiven Umgang mit Ressourcen und diverse andere Aufgabenstellungen wirtschaftlichen Agierens.
Die Natur ist eine Schatzkiste für funktionierende Managementlösungen!
Die Optimierung von Logistikketten nach »Ameisenart« hat beispielsweise Procter & Gamble jährliche
Einsparungen in Höhe von ca. 300 Millionen Dollar pro Jahr eingebracht. Unmittelbarer
Informationsaustausch und eigenständiges Handeln – typisch für Schwärme – ermöglichen das schnelle
Finden von Lösungen. Diesen Grundsätzen folgend, benötigte die Identifikation des SARS-Erregers im
Jahr 2003 durch diverse internationale Forschungsinstitute gerade einmal einen Monat. So
verwundert es kaum, dass die Methoden der sogenannten »Schwarmintelligenz« in einigen Bereichen
bereits ein Geheimtipp sind.
Apropos »Intelligenz«: Der in der Wirtschaftstheorie eine Weile proklamierte intelligente Homo
Oeconomicus, der bei jedem Einkauf rationale Grenznutzenberechnungen anstellt, wird mittlerweile
aufgrund diverser empirischer Studien auf breiter Front infrage gestellt. Stattdessen haben
neuropsychologische Ansätze in der Werbung, im Verkauf, im Risikomanagement und in der
Mitarbeiterführung Hochkonjunktur. Die Einbettung von Werbung in lustige Spots, die Empfänger in
sozialen Medien gerne weiterleiten oder mit anderen Teilen, verbreitet sich unter dem Begriff
»Virales Marketing«. Nicht zuletzt helfen sogenannte »Neuronale Netze« in der
Informationsverarbeitung, Muster zu erkennen. »Klar«, werden jetzt viele denken, »Natur und
Wirtschaft, das ist doch ein alter Hut: Gnadenloser Wettbewerb und Rücksichtslosigkeit kennen wir
doch als die Gesetze des Dschungels.« Doch diese Ansicht verkennt das Wesen natürlicher
Entwicklungsprozesse. Vielmehr ist Kooperation der rote Faden der Evolution. Immer wieder war es
das kooperative Zusammenspiel, das angefangen mit den chemischen Elementen, über Zellen und
Bakterien bis hin zu den höheren Lebewesen, wie uns Menschen, Innovationsschübe und
Wettbewerbsvorteile ermöglichten. Im Gegensatz zur Mutation erlaubt es Kooperation viel schneller,
neue funktionale Eigenschaften zu erwerben, die weit über die Fähigkeiten des einzelnen
Individuums hinausgehen. Gerade in Krisenzeiten sind Kooperationen deshalb eine sehr
erfolgversprechende Strategie.
In Anbetracht unserer gesellschaftlichen Herausforderungen scheint unsere Spezies neue Strategien
bitter nötig zu haben. Die gängigen Strategien der Wirtschaftswissenschaft waren jedenfalls in den
letzten Jahrzehnten nicht geeignet, unsere drängenden Probleme zu lösen: Noch immer sterben laut
Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation pro Jahr rund drei Millionen Kinder an Hunger und
Durst. Weite Teile der Weltbevölkerung sind so arm, dass ihr regelmäßiges Essen nicht sichergestellt
ist und sie sich weder medizinische Versorgung noch Bildung leisten können. Selbst in vielen
Industrienationen reicht für eine alarmierend ansteigende Zahl von Menschen weder die Arbeit noch
die Altersvorsorge aus, um den Lebensunterhalt zu bestreiten. Wir überfischen, überweiden und
überroden unseren Planeten ohne jegliche Rücksicht und haben eines der größten und schnellsten
Artensterben der Erdgeschichte verursacht. Gleichzeitig befeuern wir einen Klimawandel, von dem
wir weder eine Ahnung haben, welche Auswirkungen sich hierdurch auf das Gefüge von Flora und
Fauna ergeben werden, noch wie wir ihm effektiv entgegen können.
Gebetsmühlenartig wird das Mantra des Wachstums als Lösung für all unsere Probleme propagiert: je
mehr desto besser. Und nur sehr wenige wagen die Frage, ob Wachstum vielleicht gar nicht die
Lösung des Problems ist – oder vielleicht sogar das Problem selber? Stellen Sie sich vor, ein Baum wäre
ein Unternehmen und Sie würden dem Management vorgeben, jedes Jahr um 20 Prozent zu wachsen!
Der Baum ist jung und gerade einmal einen Meter hoch. Schätzen Sie doch bitte einmal, wie hoch der
Baum in 150 Jahren wäre! So hoch wie ein typischer Wald, so 30 bis 40 Meter? Des Rätsels Lösung: Der
Baum würde bereits die Sonne berühren! Eine ständige Wachstumsrate entspricht einer
Exponentialfunktion. Diese Funktionen »explodieren« unweigerlich – je höher die Wachstumsrate
desto eher! Systeme, die in ihrem Wachstum auf Ressourcen angewiesen sind – das gilt für Lebewesen
wie für Wirtschaftsunternehmen gleichermaßen –, steuern daher zwangsläufig auf einen Kollaps zu. In
Anbetracht der Begrenztheit der Ressourcen unseres Raumschiffes »Erde«, ist die gängige Strategie
auf Wachstum zu hoffen, systematisch zum Scheitern verurteilt!
Einstein ermahnte uns sehr treffend, dass es die reinste Form des Wahnsinns wäre, alles beim Alten
zu lassen und gleichzeitig zu hoffen, dass sich etwas ändert. Wenn wir zukünftig Krisen vermeiden
wollen, werden wir unser Denken und Handeln in Bezug auf Wirtschaft grundsätzlich umstellen
müssen. Die Natur hat sich in den zwei Milliarden Jahren ihres Wirtschaftens zwangsweise mit der
Begrenztheit unserer Heimatwelt arrangieren müssen. Deshalb erscheint es naheliegend, nachhaltiges
Wirtschaften an den (Wirtschafts-) Prinzipien der Natur auszurichten. Es ist alternativlos, auch unsere
Wirtschaft an die Begrenztheit unseres Ökosystems anzupassen. Die Natur ist übrigens Meister der
Anpassung. Innovation findet in ihr auf verschiedenen Ebenen statt: durch Mutation, Selektion und
Kooperation. So paradox es klingt: Selbst der Tod ist eine wichtige Komponente des Überlebens.
Durch immer neue Generationen werden die aufzubauenden Strukturen immer wieder den gerade
herrschenden Umgebungsbedingungen bestmöglich angepasst. Natürlich erfordert dies regelmäßig
auch Wachstum. Aber es gibt genauso Schrumpfungsprozesse. Zyklen und Veränderungen sind die
Regel. Um langfristig zu überleben ist es offensichtlich wichtiger, die Mechanismen der Anpassung zu
optimieren, statt sich auf eine Maximierung von Umsätzen oder Marktanteilen zu konzentrieren.
Eine Gesellschaft, die in einem begrenzten Lebensraum überleben will, muss der Wirtschaft einen
Handlungsrahmen geben, der sich an dieser Begrenztheit orientiert und das Überleben der
Gesellschaft unterstützt. Durch die zunehmende Transparenz, die das Internet und die vielfältigen
Medien bieten, wächst bereits der Druck auf Unternehmen, nachhaltig zu wirtschaften. Grund dafür
sind zwei parallel wirkende Hebel: Zum einen werden die Leistungen der Unternehmen immer
vergleichbarer. Alleinstellungsmerkmale werden von der Konkurrenz argwöhnisch verfolgt und
schnellstmöglich ausgeglichen. Die eigentliche Leistung reicht in vielen Branchen kaum noch zur
Differenzierung. Dem Image kommt eine steigende Bedeutung zu. Gleichzeitig lassen sich
Fehlverhalten und eine darauf aufbauende Meinungsbildung in sozialen Medien kaum noch wesentlich
beeinflussen. Wohlverhalten und gesellschaftlicher Gesamtnutzen des Anbieters werden zu einem
zentralen Wettbewerbsfaktor. Unternehmen mit Nachhaltigkeitsanspruch werden außerdem
feststellen, dass ihre Geschäfte langfristig auf einem funktionierenden Gemeinwesen beruhen. Das
Gemeinwesen zu stärken ist somit Teil der Strategie, das eigene Geschäft nachhaltig zu betreiben.
Die Gesellschaft wird lernen, entsprechende Regulierungs- und Anreizmechanismen zu setzen. Der
Gesamtbeitrag in Nutzen und Schaden wird aus Sicht der Gesellschaft das Maß aller wirtschaftlichen
Steuerungsentscheidungen werden müssen: Wie viele auskömmliche Arbeitsplätze werden
geschaffen, welche Ressourcen werden verbraucht und erzeugt, welche Schadstoffe belasten das
Gemeinwesen, wie wird mit Mitarbeitern, Lieferanten und Kunden umgegangen? Vielleicht wird ja
eines Tages sogar der Steuersatz an der gesellschaftlichen Gesamtbilanz des Unternehmens und des
Bürgers festgemacht. Nachhaltigen, Kreislauf-orientierten Wirtschaftsprozessen gehört die Zukunft,
ebenso wie Missions-orientierten Geschäftsmodellen mit einem klaren Wertbeitrag für die
Gesellschaft. Selbst die großen Wirtschafts-Beratungen fangen an, diese Erkenntnis Ihren Mandanten
nahezubringen. Der Chef der renommierten Unternehmensberatung McKinsey, Dominic Barton, hat im
Jahr 2012 im Wirtschaftsmagazin Harvard Business Manager dieses Prinzip unter dem Begriff Shared
Value propagiert und die Vorteile dieses Ansatzes ausführlich erörtert.
Noch stehen wir am Anfang. Doch das Umdenken setzt auf allen gesellschaftlichen Ebenen ein. In
diversen Blogs werden wirtschaftsethische Themen diskutiert. Der Deutsche Bundestag hat im Jahr
2010 die Enquete-Kommission »Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem
Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft« eingesetzt, deren
Name bereits die neue programmatische Richtung unterstreicht und deren Abschlussbericht
differenziert eine Orientierung hin zu nachhaltigem Wirtschaften fordert. Viele Unternehmen haben
begonnen, ihr gesellschaftliches Wohlverhalten (Corporate Social Responsibility, kurz »CSR«)
standardisiert in Nachhaltigkeitsberichten öffentlich bekannt zu machen. Und es bilden sich
interessante Allianzen. So forscht beispielsweise der Autohersteller Ford mit dem Ketchup-Hersteller
Heinz gemeinsam daran, wie man aus den Abfällen der Tomatenverarbeitung Kunststoffe für den
Automobilbau herstellen kann.
Wir sind soziale Wesen, geprägt durch kooperativ agierende Familien und Sippen. Lernen durch
Nachahmung war während unserer Evolution ein entscheidender Wettbewerbs- und Überlebens-
Faktor. Deshalb reichen bis heute wenige Meinungsmacher aus, die Moden kreieren können und
verändertes Verhalten initiieren. Um eine Masse zu einer Verhaltensänderung zu bewegen, reichen
nach Einschätzung einiger Experten häufig schon zehn Prozent der Akteure aus. Dieses Wissen ist
ermutigend und sollte all jenen Ansporn sein, die es als ihre moralische Verpflichtung ansehen, durch
ihr Verhalten unsere Welt für alle Mitglieder unserer Spezies lebenswert zu gestalten und unsere
Lebensgrundlagen zu erhalten. Sollten sie sich dabei manchmal recht einsam vorkommen, dann
lassen Sie sich derweil durch die Wort Mark Twains trösten: Menschen mit einer neuen Idee gelten
solange als Spinner, bis sich die Sache durchgesetzt hat.
Ausführlich schreibt Folker Scholz über die Wirtschafts- und Managementprinzipien der Natur in
seinem Buch Bio-Logisch Managen, erschienen im Nicolai Verlag. Kaufen
Auszug aus: http://www.perspektive-blau.de/artikel/1408b/1408b.htm